Allgäuer Alpenblog

Ein Trauer-Marsch. Wir erkunden Wangen, die heiter-sonnige Stadt hatte einst eine besondere Nähe zum Tod

Kultur, Stadtgeschichte

Im Vordergrund: entspannte Reisende. Im Hintergrund: das Wangener Frauentor

Links: der stolze Adler, wie auf einer Geldmünze. Rechts: spuckt ein verdruckter Allgäuer

Wir machen uns auf den Weg, erkunden die Städte des Allgäus in Rund- und Spaziergängen, Betrachtungen und Gesprächen. Wir? Eine Fotografin und ein Autor aus Hamburg, zwei erfahrene Reisejournalisten, die ihrer Sammlung an Länderpunkten einen neuen hinzuzufügen wollen – das Allgäu. Ein Stadtportrait von Susanne Baade und Dirk Lehmann

Und dann spuckt uns dieser verdruckte Allgäuer auf die Schuhe. Um uns fangen alle an zu lachen. Wir stimmen schnell mit ein. Denn es ist ein milder Sommertag, die Sonne wärmt selbst in die engen Gassen zwischen den dicht beieinander stehenden Häusern. Pah, was kann uns da schon das bisschen Wasser ab?

Der so genannte „Spuckbrunnen“ ist eine der vielleicht bemerkenswertesten Sehenswürdigkeiten, denn man hört sie schon von Weitem. Anfangs wundert man sich, warum es immer wieder zu Gelächter kommt in der Kleinstadt Wangen. Bis man schließlich den Ort des Amusements ausgemacht hat und selbst zum Gespött der Leute wird. Da steht man vor dem Brunnen, liest die Redensart von den verdruckten Allgäuern, wonach von sechs aufeinander liegenden der unterste genau so ein Schlitzohr ist wie der oberste. Und quasi zur Illustration speit eine Figur, deren Gesicht offenbar dem einstigen Bürgermeister nachempfunden wurde, in regelmäßigen Abständen Wasser.

„Wenn ma 6 Allgaier beinand beigt, no isch dro obrscht so vrdruckt wie dr undrscht!

Eine Seele in der Kunst: So sieht das Gebäck aus, ungefähr…

Wir erleben Wangen aber gar nicht so sehr als Stadt der Schelme, sondern eher als einen Ort, in dem es ein ganz bemerkenswertes Nebeneinander von Leben und Sterben gibt. Und die erste Begegnung mit dem Tod haben wir bei einem Bier. Dazu reicht man in Wangen ein etwa ellenknochen-langes, mit Kümmel und Salz gewürztes Brot, dessen Rezept eigentlich einfach und doch ein Geheimnis ist – das Brot heißt „Seele“.

Damit beginnt unsere Reise ins Jenseits. Das Brot wurde einst nur am Tag nach Allerheiligen gebacken, auch Allerseelen genannt. Allerheiligen gedachte man der Heiligen, an Allerseelen all der anderen armen Schweine – und vor allem an die wurden an jenem Tage diese Brote verteilt. Auch deshalb heißen sie Seelen. Es gibt zudem die Theorie, deren Form hänge damit zusammen, dass man einst dachte, die Seele könne nur im längsten Knochen des Menschens wohnen, und das ist nunmal der Oberschenkel-Knochen.

Jenseits und Gegenwartskunst: Skulptur von Ubbo Enninga bei der St. Martins-Kirche

Wir stehen auf dem Platz hinter St. Martins, einer kleinen Kirche mit Turm, mit lindgrünen Verzierungen bemalt, das Dach dunkelgrün. Hier war einst der Friedhof der Stadt. Denn früher wollte man so nah wie möglich am Allerheiligsten begraben sein. Je näher dran, so dachte man einst, um so eher kommt man hier auch wieder weg, wenn es ins Leben nach dem Tod geht. Und deshalb waren die Plätze ganz nahe der Kirche vor allem den Reichen und Adligen vorbehalten. Spenden brachten einen einst auch näher zu Gott.

Aber der Friedhof wurde bald schon zum Problem. Viel zu wenig tief hatte man die Leichen vergraben. In den Jahren der Pest, kurz nach Beginn des 17. Jahrhunderts, wurden die hygienischen Probleme offenbar. Mehr als die Hälfte der Einwohner Wangens starben. Heute erinnert eine recht nekrophile Skulptur an den Tod mitten in der Stadt – ein schwarzes Labyrinth, ein Totenschädel, die Doppelhelix der DNA, ein Stück Stahl, geformt wie eine Seele.

Unumstrittene Meister der Seelen-Bäckerei: Fidelisbäck in der Paradiesstraße

Unbestrittene Meister im Seelen-Machen sind die Männer vom Fidelisbäck. Sie rühren bereits frühmorgens den Teig an, der immer wieder liegen und gehen muss. Denn so eine Seele braucht viel Ruhe. Seit mehr als 500 Jahren wird das Wangener Brot hier nach alter Tradition hergestellt. In der Backstube in der Paradiesstraße.

Wer die Stadt Wangen durch die Paradiesstraße verlässt, passiert das? Genau, Martins-Tor

Die führt uns hinaus durch die Stadtmauer. Längst ist der Ort über seinen mittelalterlichen Kern hinaus gewachsen. Einst ging man vor allem durch das Tor, um die Toten zu beerdigen. Auch wir lassen nun das Martins-Tor hinter uns, queren eine größere Straße, folgen einer Gasse und schreiten durch ein kleineres Tor in eine von Mauern umgebene, wild-romantische Grünanlage. Der „Alte Gottesacker“, der Friedhof der Pest-Jahre, wurde nach Vorbild der italienischen Renaissance in einen zauberhaften Park umgewandelt. Große Bäume wiegen sich im Wind, Blätter rascheln, ein Brunnen plätschert.

Wir schreiten den Arkaden-Gang ab, lesen die Epitaphe auf einigen der hier angebrachten Grabtafeln. Ein Schutzengelkapuzinerkloster soll es hier gegeben haben, doch davon ist nichts mehr zu sehen. Dafür wurde die kleine, von außen schlicht wirkende Rochus-Kapelle vor wenigen Jahren aufwändig restauriert. Nur im Rahmen von Führungen kann man hinein gehen. Und lässt dann kaum noch die Augen von der Decke: 66 Bildtafeln, handgemalt im 16. Jahrhundert, zeigen das Leben Christi und seiner Jünger.

Vor den Toren der Stadt: Eingang zum Gottesacker

St. Rochus-Kapelle mit der „Schutzpatronin für die Pestkranken“

Näher, mein Gott zu dir: Deckengemälde in der Kapelle

Die Kapelle wurde mit großem Eifer gestaltet, aber offenbar auch in großer Furcht. Überall sieht man kleine Ungenauigkeiten der Handwerker. So war der Altar wohl zu groß geraten und ließ sich kaum in das Gebäude einfügen, ein Wangener Maurer schlug schließlich beherzt eine Nische in die Wand. Und es passte. Es sind solche Details, die zeigen, dass das kleine Gotteshaus mit der Schutzpatronin für die Pestkranken ein Ort war, an dem sich Leben und Tod begegneten – und den Lebenden muss es mir hier immer auch ein wenig mulmig gewesen sein.

Wir kehren zurück in die Stadt, passieren das Gebäude, in dem lange die „Bruderschaft zum guten Tod“ residierte, die hier vor 150 Jahren gegründet wurde. Und erreichen die Spitalskirche. Schon die Anordnung der Gebäude, das Ineinander von Kirche und Seniorenheim, der Umstand, dass es eine Türe für die Gebrechlichen gab, macht erneut klar, wie sehr Wangen einst mit dem Tod verbunden war. Wallfahrten aus vielen Ländern brachten Menschen her, auch mit der Sehnsucht – hier zu sterben.

Doppelt hält besser: zwei Altäre des barocken Sakralraums der Spitalkirche,

Ziel vieler Pilgerreisen: das Gnadenbild des gefangenen Jesus

Vor der Kirche scheint die Sonne. Es ist sehr warm geworden. Und wir gehen über die Pflastersteine zurück zum Marktplatz, von wo uns wieder Gelächter entgegenschlägt. Erneut wurde jemand Opfer des Spuckbrunnens. Auf dem Weg dahin passieren wir einen Kupfer-Schuh auf dem Pflaster. „In Wangen bleibt man hangen“, heißt in einem Narrenlied, das man zum Karneval sang. Es preist die Schönheit der Stadt, die keinen Prater hat und keine Reeperbahn…

Es steht für die Spitzbübigkeit der Wangener, wie sie das Lied illustrieren. Inzwischen ist der Tourismus der Todgeweihten nur noch ein historischer Stadtrundgang, man wandelt mit großer Neugier durch die vergangene Kultur. Und endet schließlich in einem der Cafés auf dem Marktplatz. Wir bestellen zwei Bier, zwei Seelen, blinzeln in die Sonne, die inzwischen unsere Schuhe getrocknet hat. Wir grinsen über das Gelächter. Wir bleiben einfach noch.

Narretei auf dem Pflaster: Zeile eines Faschingsliedes und die nackten Füße einer Frau

Ein heiterer Ort im Allgäu: Wangen mit seinem gut erhaltenen Stadtbild

Wangen entdecken. Der historische Stadtrundgang ist ein Muss für alle Besucher dieses schönen Ortes.

Seelen-Bäcker. Bei Fidelisbäck kommen seit 500 Jahren die besten Seelen aus dem Ofen.

 

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