Wir machen uns auf den Weg, erkunden die Städte des Allgäus in Rund- und Spaziergängen, Betrachtungen und Gesprächen. Wir? Eine Fotografin und ein Autor aus Hamburg, zwei erfahrene Reisejournalisten, die ihrer Sammlung an Länderpunkten einen neuen hinzuzufügen wollen – das Allgäu. Ein Stadtportrait von Susanne Baade und Dirk Lehmann
Man kann sich so etwas eigentlich gar nicht mehr vorstellen, heutzutage. Noch weniger die Härte, die die Menschen einst im Umgang miteinander geprägt haben muss. Galt damals jemand als verurteilter Verbrecher, dann war es eine Selbstverständlichkeit, ihn wegzusperren. In einen Raum wie diesen: grober, kalter Steinboden, rau verputzte Wände, nur ein winziges vergittertes Fenster, das so weit oben angebracht ist, dass das Licht wie ferner Glanz in der Zelle gestanden haben muss – genau so unerreichbar wie das gleichfarbige Gold.
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Den Wänden haben die damaligen Gefangenen ihr Leid geklagt. In großen, ungelenken, schwarzgrauen Buchstaben. Sie sind verblasst über die Jahrhunderte und bilden nur noch wenige Worte, die wir nicht entziffern können. Es passt zur Zelle im Erdgeschoss des Turms am Wassertor von Isny, dass für uns unleserlich bleibt, was da geschrieben steht. Die Zeit ist zwischen uns getreten, hat ihren alles irgendwie begnadigenden Mantel ausgelegt. Und wir blicken in einer Mischung aus Betretenheit und Schamgefühl aus unserem wohlfeilen Leben in dieses. Keine 500 Jahre sind seither vergangen. Erdgeschichtlich ein Witz. Aber in der Entwicklung der Menschheit mehr als eine Zeitenwende.
Wir erkunden Isny. Die Stadt ist noch fast vollständig umgeben von einer mittelalterlichen Wehrmauer. Sie umfängt ein verblüffend intaktes Stadtbild, renovierte Häuser unter starken, braunroten Dächern, Cafés und Restaurants haben ihre Stühle rausgestellt. Doch bevor wir es uns gut gehen lassen wollen, gilt es, den Ort zu verstehen. Wir folgen einer Holztreppe, betreten die Stadtmauer. Und poltern über knarzendes Holz, passieren rumalbernde Teenager, die Papierschnipsel wie Konfetti herab rieseln lassen, rauchen, knutschen, aufmüpfig gucken und dann freundlich „Grüß di“ sagen. Wie man eben so ist in diesem Alter.
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Schon bald zeigt sich, dass sie goldrichtig war, unsere Idee, einmal rundherum zu gehen um die Stadt. Denn dieser Spaziergang durch die Geschichte führt mitten hinein in die Gegenwart. So wird im Turm über dem Espan-Tor eine bemerkenswerte Ausstellung der lokalen Künstlergruppe Arkade gezeigt. Die Schau trägt den Titel „gerissen, geschnitten, gefaltet – Arbeiten aus Papier“, und eigentlich ist ihr Thema die Vergänglichkeit. Über mehrere Etagen führt die Ausstellung, wir steigen hinauf, bleiben stehen vor einem Papier-Baum, der seine Papier-Blätter abwirft. Wir sehen Portraits und Plastiken. Und stehen plötzlich ganz oben im Turm.
Weit geht der Blick über das verblüffend gut erhaltene, mittelalterliche Stadtbild. Auf dem Rathaus nistet ein Storchenpaar. Unterhalb breitet sich ein Gewirr von Gassen, verwinkelte Höfe, schiefe Häuser, eine Enge, die heute wohl keine Bauaufsicht mehr zulassen würde. Aufgeräumt und klar wirken dagegen die Arbeiten der Künstler, stehen in einer bemerkenswerten Spannung zur Welt, in der sie entstanden sind. Die Kunst erzählt viel über das Lebensgefühl an einem Ort wie diesem.
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Längst aber heißt in Isny wohnen nicht mehr, innerhalb der Stadtmauer wohnen. Der prosperierende Ort hat sich über die eigenen Grenzen hinaus entwickelt. Neuer Wohnraum entsteht. Und der Stadtrand blüht auf hinter bemerkenswertem Baumbestand, hoch aufragende Eschen, grünspanige Eichen, starke Fichten. Der Stadtgraben war einst Teil der Wehranlagen, und ist heute ein Naherholungsgebiet. Fontänen plätschern, eine Schwanenfamilie paddelt durch einen Teich, Kinder schaukeln, die ganze Heiterkeit eines strahlenden Frühsommertages.
Ein Gewitter hat es hier kürzlich aber auch gegeben. Lange stritt man in der Stadt um die Entwicklung einzelner Quartiere. Ein geplantes Zumthor-Tor, ein kühnes expressives, aber auch sehr dominantes Bauwerk, wurde bei einer Bürgerbefragung mit überwältigender – manche meinen: bestürzender – Mehrheit abgelehnt. Und da liegt sofort das Klischee vom süddeutschen Heimat-Sturkopp parat, der nicht versteht, was moderne Kunst sein soll. Und doch will es nicht so recht passen zur Stadt, die für ihre Corporate Identity die schlicht-schönen Schwarz-Weiß-Piktogramme von Otl Aicher verwendet.
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Und es passt nicht zur Art, wie die Debatte um das Areal zwischen Postgasse und Kanzleistraße geführt wurde. Viele Interessen gilt es zu berücksichtigen bei der Neugestaltung des einst „Hofstatt” genannten Stadtteils. Vor allem musste man sich von vornherein die Frage stellen, was mit den archäologischen Fundstücken geschehen würde, die hier nach und nach zu Tage kommen? Denn dass Isny ein Glücksfall für die Archäologie sein würde, daran bestand nie Zweifel, die Hofstatt wurde im Jahr 1031 erstmals urkundlich erwähnt. Zwar wurden 600 Jahre später fast 400 Gebäude bei einem Brand zerstört. Doch man buddelte hier keine tiefen Keller, im Zweiten Weltkrieg blieb die Stadt verschont, und so war klar, dass der Boden einiges hergeben würde. Im „Guckloch”, einem Schaufenster beim Landesamt für Denkmalpflege, präsentiert man aktuelle Fundstücke – etwa eine eher schmucklose, schwarz-graue Schale aus dem Mittelalter. Die Isnyer nehmen es mit Gelassenheit und großer Neugier, dass sich mitten in ihrer Stadt ein Quell der Geschichte aufgetan hat.
Wir kommen ganz zum Ende unserer Tour zum eingangs beschriebenen Turm am Wassertor. Lassen den Raum, der einst als Zelle diente, hinter uns, steigen auf in die Etage darüber, in der es eine kleine Ausstellung zur Geschichte der Feuerwehr gibt. Steigen weiter in die Etage, in der die Arbeit eines Schumachers illustriert wird und erreichen schließlich die ehemalige Wohnung des Türmers. Ein Herd, eine Stube, ein kleines schmales Bett. Es ist derselbe Grundriss wie der der Zelle. Fast 40 Meter über Isny. Wieder lässt sich tief blicken auf die Stadt. Wir sehen die beiden dicht beieinander stehenden Kirchen, katholische und protestantische, quasi im Wettstreit der Konfessionen, der hier im Mittelalter geführt wurde. Und so sagen manche, heute noch die politische Kultur Isnys prägt.
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Wir sehen von hier oben das kleine Café wieder, an dem wir während unseres Rundgangs vorbeigekommen sind. Eine große Tafel warb für selbst geröstete Bohnen. Komm, wir setzen uns auf die Terrasse, gönnen uns ein Stück Tarte und einen frischen Espresso. Und genießen den Moment in dieser überraschend schönen kleinen Stadt, in der man es sich doch sehr gut gehen lassen kann.
Archäologie. Aktuelles über die Grabungen in der Innenstadt. Gute Hintergrund-Infos.
Arkade. Infos über die Künstlergruppe und die aktuelle Ausstellung im Turm über dem Espantor.
Kaffeebohne. Ob nur für einen schnellen Espresso oder für’s Mitbringsel. Ein Besuch wert.
Isny Tourismus. Veranstaltungen, Übernachtungen, Stadtführungen. Erste Anlaufstelle für Besucher.