Wir machen uns auf den Weg, erkunden die Städte des Allgäus in Rund- und Spaziergängen, Betrachtungen und Gesprächen. Wir? Eine Fotografin und ein Autor aus Hamburg, zwei erfahrene Reisejournalisten, die ihrer Sammlung an Länderpunkten einen neuen hinzuzufügen wollen – das Allgäu. Ein Stadtportrait von Susanne Baade und Dirk Lehmann
Es gibt Tage, da liebt man das Leben mehr als an anderen. Und an einigen dieser Tage sehen einem das die Menschen, denen man begegnet, auch an. Viele freuen sich mit einem, geben einem das Lachen, das man im Gesicht trägt, zurück. Oder verstärken es gar. Und machen so diese besonderen Tage noch spezieller als sie es ohnehin schon sind.
Die Wirkung der „emotionalen Ansteckung“ ist vor einiger Zeit in einem aufsehenerregenden Facebook-Experiment unter Beweis gestellt worden. Vereinfacht lässt sich das Ergebnis so zusammen fassen. Wer überwiegend negative Nachrichten in den Newsfeed der eigenen Facebook-Seite eingespielt bekam, hat auch selbst eher düstere Postings abgesetzt. Wer vor allem positive Nachrichten zu lesen bekam, dessen Texte motivierten auch eher.
Und so überrascht es uns nicht, dass wir an diesem Donnerstagmorgen 1. aus dem Flugzeugfenster auf ein heiteres Stück Bayern sehen: Wälder, Felder, Seen, Straßen, Häuser, Dörfer, eine Stadt. Dass wir 2. sicher und souverän landen im sonnigen Memmingen. Und uns, 3., die Frau von der Autovermietung nach kurzem Zögern doch statt eines VW Golfs das letzte verfügbare „Cabrio“ gibt – einen Fiat 500.
Der Kofferraum ist gerade groß genug für unsere Tasche, der Innenraum knapp groß genug für uns beide. Und doch fahren wir fröhlich in die Stadt hinein, die an diesem Wochenende eigentlich im Ausnahmezustand ist, von Donnerstag bis Sonntag, es ist Fischertagswochenende.
Fischertag? Durch Memmingen fließt der Stadtbach. Einst wurde der, wie es früher eben so war, vor allem als Kloake missbraucht: Die Gerber wuschen ihre Felle, man spülte seinen Unrat darin weg, der Bach verdreckte. So dass man beschloss, ihn einmal im Jahr zu reinigen. Und dafür wurde den Männern das Recht erteilt, mit ihren Käschern – hier Bären genannt – die Fische aus dem Wasser zu holen. Und wer die schwerste Forelle fängt, ist für ein Jahr der Fischer-König. „Schmotz, Schmotz, Dreck auf Dreck“, singen die Putzknechte, bevor sie in den Bach einsteigen dürfen.
Den Auftakt für das Wochenende bildet das so genannte Kinderfest. Die Schüler ziehen durch die Stadt, bejubeln die Spielmannszüge, und machen sich dann an ein gemeinsames, zweites Frühstück. Schon dessen Zusammensetzung rechtfertigt eine erste ethnologische Untersuchung, denn die Kinder bekommen eine „Brezge“ und eine „Schübling“ genannte Wurst.
Wir machen uns auf, die Herkunft dieser Speisen zu erkunden. Die Brezge heißt bloß so in diesemTeil des Landes. Zusammensetzung und Machart unterscheiden sich nicht von anderen Brezn oder Brezeln. Wir besuchen den Standhartinger Karl, der uns von vielen als einer besten Brezn-Bäcker der Stadt genannt wurde, und der uns in seine Backstube einlädt. Wir sehen ihm zu, wie er die langen Teigrollen durch die Luft wirbelt und schließlich zu einem Brezel formt. Selbst nach der x-ten Vorführung kriegen wir es nicht hin.
Leicht entmutigt, jedoch mit zwei Anschauungsstücken aus Profi-Händen versorgt, verlassen wir die Backstube. Und entdecken davor ein Schild. „Frische Brezn“ heißt es da. Wir sofort zurück. Hej, Meister, hast du uns nicht gerade noch einen Vortrag darüber gehalten, dass die Brezel in Memmingen Brezge heißt? Er lacht. Klar heißt die Breze Brezge, aber das g wird nur gesprochen, nicht geschrieben.
Mundartlich auch nicht viel einfacher stellt sich die oder das Schübling dar. Schon das Geschlecht der Wurst lässt sich kaum eindeutig bestimmen. Die Verkäuferin der Metzgerei Kleiber, von der es hieß, die mache die besten der knackigen Würste, konnte zwar die Zusammensetzung beschreiben, dass Rind- und Schweinefleisch verwertet werden, dass die Wurst dem Wiener ähnlich sei, vielleicht ein wenig gröber. Aber warum „Schübling“? Vielleicht weil man sie aus der Hand in den Mund „schübt“? Wir setzen uns mit dem Kindertagsgericht auf eine Parkbank an einem der viel Brunnen der Stadt. Eine Vegetarierin mit Brezge und ein Flexitarier mit zwei Schübling und einer Brezge.
Der eigentliche Fischertag findet am Samstag statt. Schon um 7 Uhr morgens strömen die Menschen zu Tausenden in die Innenstadt. Eine Kanone wird aufgebaut. Erst wenn ihr Knall ertönt, dürfen die Männer anfangen zu fischen. Die Männer? Ja, Frauen sind im Bach nicht erlaubt. Und in den Minuten des Wartens baut man sich dicht an dicht an dessen Rand auf, an Arkaden und Promenaden, auf Stufen und Bordsteinen, unter und auf Brücken, jeder auf der Suche nach der Pole Position.
Der Knall. Und die Männer springen ins Wasser, pflügen mit ihren Käschern durch den schnell vom aufgewühlten Sediment trübe werdenden Bach. Nur vereinzelt Jubel als Bestätigung, dass ein Fang gelungen ist. Dieses Jahr, da sind sich Beobachter und Teilnehmer einig, wird nicht soo gut. Eine Frau, die ihren Mann begleitet, und die Aufgabe hat, die Fische in Eimern zu sammeln, sagt sie glaube die Forellen „wissen“ schon, was passiert, und zögen sich zurück. Und ein Zahnarzt, der uns ganz viel erklärt über den Brauch, den Verein, dem man mindestens zehn Jahre angehören muss, und den Umstand, dass viele Fischer auch eine Art Stammplatz haben, er sagt: „In diesem Jahr sind zu wenig Forellen ausgesetzt worden.“
Mit ihm sprechen wir auch über die dunklen Seiten des Brauchtums. Ist es nicht Tierquälerei, was hier betrieben werde? Doch der Zahnarzt weist darauf hin, dass viele gefangene Forellen wieder in den Bach zurück kämen. Und dass die, die verspeist werden sollen, fachgerecht getötet würden. Die Fischertage seien kein Schlachtfest, sondern ein gesellschaftliche Ereignis. Er sieht das auf selber Ebene wie die Sanfermines, die Stierhatz in Pamplona…
Der Fischertag folgt auch derselben Ernsthaftigkeit. Schon nach wenigen Minuten hat es sich ausgefischt. Wer meint, etwas Vorzeigbares gefangen zu haben, geht zum Marktplatz. Eine Musi spielt, ein Moderator erklärt das Brauchtum, während seine Helfer immer wieder Fische in ein großes Bassin gleiten lassen, heraus angeln, kurz wiegen, zurück ins Bassin werfen. Schon bald steht der Sieger fest, 2370 Gramm wiegt die größte Forelle des Tages. Wer sie gefangen hat, ist eigentlich nicht wichtig, Hauptsache, es gibt einen Grund zum Feiern.
In aller Welt gibt es Feste wie dieses. Die Pferderennen in Siena, die Stierhatz in Pamplona, die Kuhkämpfe in der Schweiz. Es sind laute Veranstaltungen, eine Mischung aus Volksfest und Karneval, gewürzt mit einem Hauch Brauchtum. Und nach einer kurzen Adrenalin-Ausschüttung münden diese Feste vor allem in eine große Gaudi. In Memmingen wirft man sich ins Wasser, spritzt einander nass, alle sind ganz ausgelassen und hocken nachher umeinander auf den Bierbänken. Das wäre wahrscheinlich genau so auch ohne diesen Wettstreit möglich. Wir sitzen noch mit ein paar jungen Leuten zusammen, trinken, lachen. Das Feiern macht Spaß.
Später stehen wir im Haus der Innungen Memmingens. Es ist eines der vielen historischen Gebäude, die im Zusammenspiel mit Stadtbach und neuem Pflaster, mit mild-warmem Wetter und der Heiterkeit einer überwiegend den Fußgängern gehörenden Innenstadt für jene freundliche Atmosphäre sorgen, die diesen hübschen Ort prägt. Eine Atmosphäre, die schon vor mehr als 500 Jahren ihre Wirkung getan zu haben scheint. Jedenfalls trafen sich hier die Bauern, um gegen ihre Unterdrückung aufzubegehren. Sie formulierten 12 Thesen, die von vielen heute als die Grundlage einer ersten Verfassung angesehen werden. Es sind Forderungen, die in ihrer Schlichtheit berühren, und die einem klar machen, wie weit wir es gebracht haben.
Wir bummeln zurück zu unserem roten Cabrio. Wir hatten noch ein sehr leckeres Frühstück im Café Rau genommen. Uns noch in einem nur kurzzeitig geöffneten Privathaus die beeindruckende Kunstausstellung „Odyssey“ von Robert Koenig angesehen, übermannsgroße Skulpturen als „Wächter der Erinnerung“. Und wir waren noch einem Schornsteinfeger begegnet, der euphorisch winkte, als – wir aus einer Laune heraus – beschlossen, ihn zu fotografieren. Es gibt Tage, da liebt man das Leben mehr als an anderen.
Memmingen. Hier gibt es alle Infos zur Stadt.
Aktualisierung Januar 2016:
Das besuchte Café Rau ist heute unter dem Namen Grand Café erreichbar.
Café und Kuchen. Mit sehr beliebtem Sonntagsbrunch.
12 Artikel. Aufbegehren für ein Stück vom Glück.
Super Brezge. Auch wenn man das g wohl nicht schreibt.
Nix für Vegetarier. Leckere Wurst und gute Schübling.