Und dann entsteht ein Moment, in dem alles auf wundersame Weise zusammen passt. Man hat sich bereits eine ganze Weile unterhalten, eine gewisse Vertrautheit ist entstanden, und plötzlich scheint alles um einen herum zu verschwinden. Da ist nur noch das Gegenüber, das Gespräch – und man sagt den ungeheuerlichen Satz, den man wahrscheinlich sonst nie gesagt hätte: „Die Leute haben immer so getan, als hätte ich das gemacht, um der Stadt Leutkirch zu dienen, quasi einen Gefallen zu tun“, Dassel winkt ab. „So ein Blödsinn! Ich habe den `Talk im Bock´ erfunden, weil ich selbst Bock darauf hatte. Ich habe es für mich gemacht!“
Bernd Dassel kennt solche Momente, in dem ein öffentlich geführtes Gespräch jene Intimität bekommt, die ihm eigentlich nicht gebührt, der Moment, in dem man vor Publikum etwas sagt, was eigentlich am besten im vertrauten Kreis geblieben wäre. Seine Talk-Runde unterm Dach des alten Bock-Gebäudes der Stadt Leutkirch – deshalb auch „Talk im Bock“ –, lebte davon. Wie alle guten Talkshows von solchen Momenten leben. Vorausgesetzt, sie haben einen guten Talk-Master. Und Bernd Dassel war ein verdammt guter Talkmaster.
Ihm gelang es, viele bekannte Persönlichkeiten in die kleine Stadt einzuladen: Maybrit Illner war hier und Judith Rakers, Roman Herzog und Michael Stich. Von ihnen erzählt Dassel nun, während wir im Lamm 3 sitzen, einem liebevoll eingerichteten Café mit Laden, bzw. Laden mit Café in der Lammgasse. Kopfsteinpflaster, eng stehende Häuser, Efeu, die Sonne spielt mit den roten Dächern. Dassel erzählt, wie er seinen Gesprächspartnern Geheimnisse abrang, Emotionen frei legte, Begeisterung auslöste, ja fast Freundschaften bildete.
Wie kam es, dass so eine zauberhafte Stadt zum Austragungsort spannender Rededuelle wurde, die man eher in Metropolen mit eigenen Fernsehsendern erwarten würde? Ach, das ist leicht erzählt. Jeder kennt das Klischée vom leidenschaftlichen Journalisten. In schlechten Hollywood-Filmen ist das eine schmierige Type, der für eine gute Geschichte seine besten Freunde – so er denn welche hat, opfern würde. Im wahren Leben aber sind das Menschen, die immer in Geschichten und Interviews denken, in Begegnungen und Notizen, in Storys eben. Solche Menschen arbeiten quasi ständig und sind doch nie burnout-gefährdet. Denn sie lieben, was sie tun. Wie Dassel.
Der frühere Radiomoderator hat für verschiedener Sender gearbeitet, vor allem für SWR und RIAS. Bis er sich irgendwann eher zufällig mit dem Thema Ruhestand konfrontiert sah. Und da jemand, der für das was er tut brennt, nichts so sehr fürchtet, als dass diese Flamme irgendwann runtergedreht werden würde, fachte er sich ein neues Feuerchen an. Und Dassel wendete sich an die Stadt, ob sie denn nicht ein Talkshow-Format finanzieren würde. Er würde prominente Gäste in den kleinen Ort holen. Dabei ging es ihm nicht um Geld, ein Honorar wollte er nicht, und die Gäste sollten ihres bestenfalls spenden. Es ging ihm nicht um Ruhm. Es ging um seine Leidenschaft. Um das Feuer. Das aber sagte er niemandem.
Leutkirch ist eine Stadt mit 20.000 Einwohnern, sie liegt im Westallgäu, gehört zu Baden-Württemberg und überrascht den Besucher mit dem Liebreiz historischer Gebäude, belebt von der Wirklichkeit einer vitalen Stadt, durchzogen von verblüffend viel Moderne: Das um 1378 erbaute Gotische Haus zählt zu den bedeutendsten Denkmälern Südwürttembergs, davor recken sich aus grobem Holz geschlagene Skulpturen Klaus Priors. Vor dem barocken Rathaus kann man in einem der Café auf Stühlen sitzen, deren Design an den Funktionalismus anknüpft, und von der Festungsanlage blieb der Pulverturm und das Gänsbühl mit Bockturm und Bocksaal.
Ihn hat Dassel mit seiner Talkrunde belebt. Der Talk im Bock wird bleiben, der Talkmaster selbst jedoch ist ausgestiegen. Schon seit einiger Zeit leidet der noch immer vital wirkende Mann unter einer Vielzahl von Erkrankungen, mehrere Herz- und Knieoperationen, ein Nerven- und ein Hautleiden. Dassel zählt weitere auf, winkt ab, es ist ihm eher lästig als dass er Mitleid erzeugen will. Dass seiner Lebensenergie in Folge gesundheitlicher Probleme das Feuer ausgeht, das ist für ihn so offenbar unfassbar wie die ungeheuerliche Frage im perfekten Talk-Show-Moment.
Ob er mit einem guten Gefühl gehe? Dassel lächelt. Ja, er hat sein Leben gelebt. Nicht immer gesund genug, er hat vielleicht den Alkohol zu sehr geliebt, aber es gebe nichts zu bedauern. Er war ein erwachsener Mann. Genau so spricht er jetzt auch über den Tod, aufrecht, ernst, mit einem Lächeln im Gesicht mit den strahlend blauen Augen über rot leuchtenden Wangen. „Mich freut es, dass der Talk im Bock weiter geht. Aber ich finde es furchtbar, dass ich ihn nicht mehr führen kann.“
Es spricht für die Lebensqualität einer Stadt, dass sie Menschen dazu bringt, Besonderes zu leisten. Leutkirch weckt offenbar Kräfte. Und wer diese Kraft nicht aus der historischen Innenstadt ziehen kann, der möge sich in ihr Umland begeben. Wie es Otl Aicher einst tat. Der Gestalter, der die Piktogramme für die Olympischen Spiele 1972 erfand, viele moderne Designlösungen und mehrere Schriftarten, die wir heute mit großer Selbstverständlichkeit verwenden, hatte sein Atelier im Ortteil Rotis. Der Weg dahin führt durch eine Landschaft, die alle Allgäu-Klischées bedient – es geht durch Hügellandschaften mit zauberhaften Eichen-Alleen, durch Birkenhaine und über Bäche, vorbei an Höfen und in die Ferne tanzenden Weiden, auf denen braune Kühe grasen. Bis man schließlich jenen Ort erreicht mit Aichers Atelierhäusern.
Ja, man spürt die Kraft dieser Stadt. Leutkirch bewegt viel. Ein Ort für Menschen, die es lieben, Dinge anzustoßen, die Veränderungen nicht scheuen. Bernd Dassel ist so einer. Otl Aicher war einer. Und schon ist es inspirierend, diesen Ort zu besuchen. Wir werden wieder kommen.
Mehr als Talk. Alle Infos zu Leutkirch findet man auf der Website der Stadt, es gibt diverse Sehenswürdigkeiten, viel Geschichte und tolle Gastgeber.
Mehr als Tee. Wir haben uns sehr wohl gefühlt im Lamm 3, einem schönen Café in der Lammgasse Leutkirchs, es gibt auch eine sehr leckere scharfe Möhrensuppe mit Kokos und Ingwer.
Mehr als Gerede. Die Veranstaltung „Talk im Bock“ läuft auch ohne Bernd Dassel weiter.
Mehr als Typo. Dem Geist eines großen Gestalters nachspüren kann man in den Ateliers in Rotis.