Allgäuer Alpenblog

Abstieg in die Zeit. In die Geschichte Kemptens

 

Eine stolze Stadt: Kempten und seine Insignien

Wir machen uns auf den Weg, erkunden die Städte des Allgäus in Rund- und Spaziergängen, Betrachtungen und Gesprächen. Wir? Eine Fotografin und ein Autor aus Hamburg, zwei erfahrene Reisejournalisten, die schon viele Stempel und Visa in ihren Reisepässen haben, und ihrer Sammlung an Länderpunkten einen neuen hinzufügen wollen – das Allgäu. Ein Stadtportrait von Susanne Baade (Fotos) und Dirk Lehmann (Text)

Rückblick und Ausblick: ein Spiel mit den Zeiten in Kempten

Blau verspiegelt ist das Glas. Ein futuristischer Winkel, der vor dem Brunnen auf Kemptens St. Mangplatz in die Tiefe weist. Ein paar Treppenstufen, eingefasst von glattem Beton. Schließlich ein violett ausgeleuchteter Raum. Und in dem Moment, in dem man den Schauraum der Erasmuskapelle betritt, ist man nicht mehr nur Reisender, Gast in einer fremden Stadt. Man wird zum Reisenden in der Zeit, betrachtet den Wandel eines Ortes in den Jahrhunderten.

Wie sah die Welt aus in jenen Jahren, da das heutige Kempten noch Kemptun hieß oder Kempton. Ein Name, abgeleitet von Kambodounon, bzw. Cambodonum. Ursprünglich war es eine Römerstadt und wohl eine der ersten in diesem weiten, wilden und unzivilisierten Land, das wir heute Deutschland nennen. Und deswegen zählt das heutige Kempten zu den ältesten Städten dieses Landes. Gern reklamiert man diesen Titel sogar ganz für sich. Doch das ist umstritten, zwei andere Städte melden denselben Anspruch an. Was alle eint, dass sie die Voraussetzungen für eine römische Stadtgründung erfüllen: dass eine Therme existiert. Ja, die Römer wollten ihr Reich stabilisieren. Aber nur wenn das Wellness-Angebot stimmte. Keine römische Stadt ohne Bad, ohne Schwitzraum und Caldarium. Cambodonum erlebte im 2. und 3. Jahrhundert eine erste Blüte.

Einstieg in die Geschichte der Stadt: der kühne Eingang in die unterirdische Erasmus-Kapelle

Rote Dächer, grünes Land, schwarze Kirchen: Kempten in einer historischen Darstellung von 1569

Im 8. Jahrhundert förderte Königin Hildegard das damalige Kloster von Kempten. Hildegard war die dritte Frau Karls des Großen. Und auch der war, wie wir wissen, ein echter Wellness-Fan. Doch vor allem wirkte sich die Frömmigkeit seiner Frau aus auf die Entwicklung der Stadt. Das Kloster wurde stark und mächtig, so dass sich Kempten – in dieser Schreibung tritt der Name nach 1300 auf – dem Besucher als Doppelstadt präsentierte: auf der einen Seite der Iller das Kloster mit seinen Gebäuden, auf der anderen die weltliche Siedlung. In einem unglaublichen Kraftakt gelang es den Menschen damals, den Lauf des Flusses zu verlegen. Seit dem 14. Jahrhundert umfließt die Iller östlich die Stadt. Und es wuchs zusammen, was zusammen gehörte.

Dies ist ungefähr die Zeit, in der wir jetzt stehen, hier unten in der Erasmuskapelle. Wo viele Menschen leben, sterben auch viele. Der Friedhof Kemptens musste erweitert werden, eine Kapelle entstand. Im Obergeschoss wurden die Messen abgehalten, das Untergeschoss diente als Beinhaus. Die Erasmuskapelle teilte das Schicksal vieler Stadtgebäude, immer wieder wurde sie durch Brände beschädigt. Erneut aufgebaut, verändert. Vergrößert. Umgewidmet. Und es ist erstaunlich, wie sehr die Menschen sich heute manchmal schwer tun damit, dass ein einst dem Glauben dienender Ort weltlich wurde, damals war das gang und gäbe. Die katholische Kapelle fiel nach der Reformation an die Stadt und wurde zum Leinwandschauhaus umgewandelt, zu einem Ort, an dem man die Qualität gewebter Stoffe prüfen konnte.

Im einstigen Beinhaus aber, wo die Knochen der Toten lagen, da ließen sich die Stadtherren eine Trinkstube mit Weinkeller einrichten. Und zechten. Man mag es in der Rückschau manchmal ein wenig bizarr finden, wie pragmatisch die Menschen einst die Räume nutzten. Vor allem aber beeindruckt ihr unverkrampfter Umgang mit Leben und Tod.

Und es erschüttert ihre Rücksichtslosigkeit. Irgendwann hatte man mehr oder minder vergessen, dass hier jemals eine Kapelle stand. Man beschloss den Abriss des nutzlosen Gebäudes, verfüllte den Keller mit Bauschutt. Und wenn man nicht auf die Idee gekommen wäre, den Platz neu zu gestalten, wäre dieses Kleinod von einem musealen Raum, das anzusehen sich für einen jeden Besucher der Stadt empfiehlt, wohl auf immer verloren geblieben.

Mehr als nur ausgegraben: In der Erasmuskapelle wird Geschichte multimedial erzählt

Im Beinhaus: Man hat die Bestattungen nummeriert. Ruhe in Frieden, Nummer 171

Wir stolpern jetzt hinaus in den Tag. Es ist mild, leicht verhangen. Ein paar Motorradfahrer treffen sich mit ihren Karren vor der Kirche. Und ein Einheimischer, dem wir am schönen Brunnen vor der Kirche begegnen, und der uns in den Unterlagen zu Kempten blättern sieht, erzählt uns seine Sicht der Stadt: Nur noch 900 Menschen lebten hier nach 30-jährigem Krieg und Pestepidemie („Bis dahin waren es 6.000!“), der letzte Hexenprozess Deutschlands wurde 1775 in der Stadt abgehalten, 1899 fuhr das erste Automobil durch Kempten, und dann nimmt er uns beiseite und sagt: „Aber seien Sie vorsichtig: In Kempten ist die Mafia stark. Hier kann man leichter Kokain kaufen als Kaviar.“

Nun steht uns nach beidem nicht so recht der Sinn. Wir bedanken uns artig und begeben uns in die Stadt mit dem Ziel, uns ein eigenes Bild zu machen. In nur 200 Jahren hat sich die Zahl der Einwohner Kemptens verzehnfacht. Und inzwischen präsentiert sich der Ort in jener zauberhaften Unbeschwertheit, die viele Städte des Allgäus ausmacht. Man erkennt, mit wie viel Sorgfalt und Liebe für’s Detail die Straßen und Plätze saniert wurden, man kann sich begeistern für die hübschen Fassaden mit ihren hohen Giebeln, für das üppige Grün und das schöne Nebeneinander von damals und heute, Geschichte und Gegenwart. Vielleicht zählt das für uns, als irgendwie doch immer auch snobistische Großstädter, zu den Überraschungen an einem Aufenthalt in einer Stadt wie Kempten – man vermisst die Metropole gar nicht. Das Leben hier ist einem schnell genug.

Impressionen eines Stadtspaziergangs: faule Katzen, sattes Grün, gepflegte Gassen

Kein Kunstwerk. Und doch mehr als das, was es zu sein vorgibt: eine Bank

Kempten und seine Blautöne: in Jacke und Kirchturmzifferblatt

Wir gehen über den Markt. Frische Produkte aus dem Umland werden angeboten. Und natürlich mancher Tand, der einem nichts bedeutet. Aber, ach, auch das gehört zum Leben. So wie es völlig normal ist, dass Gottlose wie wir neugierig in Kirchen rennen – ihre Machart anschauen, uns von ihrer Inszenierung beeindrucken lassen. Und von ihren Anstrengungen, einen Platz im Leben der modernen Menschen zu behaupten. Sei es mit einem Motorrad-Gottesdienst. Dass vor dem Altar eine Karre steht.

Wir werden unsere Zeitreise nach und durch Kempten immer wieder mal aufnehmen müssen. Denn es heißt, dass die Stadt ihr wichtigstes Wasser – die Iller – wieder stärker integrieren will. Momentan fließt sie außerhalb des Zentrums, verborgen hinter dicken Mauern, man kann sie sehen und auf Brücken überqueren. Doch fehlt der Stadt die Verbindung zum Fluss. Das soll sich ändern. Und auch wenn unser Ausflug nach Kempten mit einer Reise in die Vergangenheit begann, so freuen wir uns schon jetzt auf die Zukunft.

Kirche auf der Suche nach Anschluss: Für einen Motorradgottesdienst mit Karre vor dem Altar

Eingang und Rückzug: Kubus mit Glastür, Holzgestühl für das Gebet

Das Nebeneinander der Zeiten: Kirche und Crêpes-Bude, Kupferdach und Leuchtreklame

Alles über die Stadt. Auf der offiziellen Website finden Sie alle wichtigen Infos.

Einstieg in die Geschichte. Die Website der Erasmuskapelle verlinkt mit der Vergangenheit.

Tour für Aktive. Der Iller-Radweg gilt als schöne Verbindungsstrecke, bzw. als Wochenendtripp.

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