Allgäuer Alpenblog

Auf den Spuren eines Popstars aus dem 17. Jahrhundert. In Kaufbeuren

BU

Aussichtsplatz: Das Observatorium liegt 149 Stufen über Kaufbeuren

Ein Traum in Rot. Die Dächer und die Blumenkästen am Rathaus der Stadt

Wir machen uns auf den Weg, erkunden die Städte des Allgäus in Rund- und Spaziergängen, Betrachtungen und Gesprächen. Wir? Eine Fotografin und ein Autor aus Hamburg, zwei erfahrene Reisejournalisten, die schon viele Stempel und Visa in ihren Reisepässen haben, und ihrer Sammlung an Länderpunkten einen neuen hinzufügen wollen – das Allgäu. Ein Stadtportrait von Susanne Baade (Fotos) und Dirk Lehmann (Text)

Geschichte leben: die Stadtmauer; beim Tänzelfest spielen Jugendliche die Historie

Hinter Toren: Die Blasiuskapelle, einer der bedeutendsten Sakralbauten des Mittelalters

„Silvester sitze ich gern mit meiner Frau hier“, sagt unser Guide. Dann sei der Klostergarten zwar offiziell geschlossen. Doch er gehöre zu den freiwilligen Helfern, die insgesamt 16.000 Stunden Arbeit in den Wiederaufbau des Areals unterhalb der Stadtmauer gesteckt haben, und das sei eines der kleineren Privilegien, von denen man dann profitiere. Jetzt lächelt er mild und sieht hinaus über das Grün auf die roten, umeinander tanzenden Flächen der Dächer Kaufbeurens.

Das klingt so harmlos, so nachvollziehbar. Dabei sind wir plötzlich an einem Ort angekommen, an dem sich historische Kontinuität manifestiert. Meist tut sie das nur in Bau- und Kunstwerken, in Materie gewordenen Sendboten einer anderen Zeit. Doch hier oben, auf der Holzbank im Garten am Hang des Blasiusberges, von der man scheinbar bloß einen schönen Blick auf ein wahrlich schönes Altstadtensemble hat, erlebt man die Kraft der Gefolgschaft.

Man muss nur genauer hinsehen. Dafür gilt es den Blick zu richten auf die schlichte Kapelle des Klosters der Franziskanerinnen. Da liegen hinter Glas, in einem güldenen Sarkophag (man muss ihn so nennen), die Gebeine einer Frau, die vor 270 Jahren gestorben ist. Geboren wurde sie unter dem Namen Anna, berühmt wurde sie als Crescentia. Und es gab Zeiten, da pilgerten mehr als 70.000 Wallfahrer jährlich an ihr Grab. Crescentia, um es mit modernen Begriffen zu fassen, war ein Pop-Star ihrer Zeit. Wie Janis Joplin und Whitney Houston, Elvis Presley und Curt Cobain. Ihr Tod machte sie noch berühmter.

Ort der Kontemplation: Als „demütig, kostbar und keusch“ gilt das Wasser

Ein Popstar: Seit ihrem Tod pilgern Wallfahrer ans Grab der Nonne Crescentia

In Memoriam: Aus diesem Fenster hat sie gesehen, solche Birnen verteilt

Geboren wird sie im Oktober 1682 unter dem Namen Anna als sechstes von acht Kindern. Angeblich ein fleißiges Mädchen, doch nicht weiter auffällig. Im Alter von 21 Jahren tritt sie in das Franziskanerinnen-Kloster von Kaufbeuren ein. Anna wird zur Nonne Crescentia, die „Wachsende“. Die anfangs allerdings eher klein gehalten wird. Das Kind armer Eltern bringt keine Mitgift mit für ihre Heirat mit Gott. Die Oberin hält sie für eine Schmarotzerin, die junge Frau wird schikaniert. Heute würde man sagen, sie sei gemobbt worden.

Bald schon schätzen die Mitschwestern Crescentias Ratschläge. Es spricht sich in der Stadt herum, dass sie nützliche Dinge sagt, dass sie fast Weissagungen von sich gibt. Und immer mehr Menschen kommen an die Pforte, an der die Nonne inzwischen arbeitet, schildern ihre Probleme und empfangen ihren Rat. Und oft auch ein Stück Brot. Wegen ihrer „Visionen“ verdächtigt man die nun knapp 30-jährige Frau der Hexerei. Aber Schwester Crescentia, so die klösterliche Folklore, „zeigt große innere Stärke und kann sich von allen Anschuldigungen `reinigen´.“

Inzwischen kommen nicht nur die Armen, sondern auch einige Herrscher um sich Rat zu holen. Ihre, so würde man heute wohl sagen, Coaching-Tätigkeiten führen dazu, dass das Kind armer Eltern im Alter von 59 Jahren zur Oberin gewählt wird. Was eine Karriere. Leider stirbt Crescentia schon drei Jahre später, 1744. Ihrem Ruhm tut das keinen Abbruch. In Scharen kommen die Wallfahrer an das Grab, in manchen Jahren 70.000 Menschen. Im Oktober 1900 wird die Nonne aus Kaufbeuren  selig, im November 2001 heilig gesprochen. Die erste Heilige des 21. Jahrhunderts. Eine Frau aus dem Volk. Noch immer ist ihre Gefolgschaft so groß, dass man ihr den Garten richtet.

Ein Sommer zum Verlieben – mit kurzen Hosen und orangefarbenen Markisen

Allein für Konditor-Eis und Zwetschgendatschi lohnt die Reise in die Stadt

Unser Spaziergang durch Kaufbeuren beginnt am Neptunbrunnen. Die Sonne scheint, das Wasser glitzert, eine Frau mit auffällig roten Haaren sitzt auf einer braunen Holzbank und scheint auf jemanden zu warten. Wir schlendern mit unserem Guide durch eine heitere Stadt, betreten ein Gebäude, das mal ein Herberge war und dann zur evangelischen Kirche umgebaut wurde. Wir steigen über 149 Stufen den Afraberg hinauf, erkunden die aus Tuffstein errichtete Stadtmauer und erreichen die Blasius-Kapelle, in der in 66 Votivtafeln vom Leben, Wirken und Martyrium von vier Heiligen der katholischen Kirche erzählt wird. Wer sich diese Bilder ansehen will, muss schon den einen oder anderen Zombie-Film gesehen haben, sonst dreht es einem dem Magen um, angesichts der detailreichen Martyrien, die die Tafeln darstellen.

Wir gehen durch den Klostergarten, in die Klosterkapelle, vorbei am Reliquienschrein der Heiligen Crescentia, treten durch die Pforte, die sie einst gehütet hat, an der sie den Reichen Rat gab und den Armen Brot. Hinter dem Tor lebt die Stadt. Das Kloster hingegen ringt um seine Zukunft – der Beruf Nonne hat einiges an Reiz verloren –, obwohl Crescentia noch immer ein Star ist. Die Stadt hingegen fühlt sich sehr lebendig an. Agil. Zukunftsorientiert.

Unser Guide will uns noch eine weiteren Ort aus der Geschichte der Stadt präsentieren, dessen Bedeutung weit in die Gegenwart reiche. Und mit verschwörerischer Stimme erzählt er von einem Taufbecken aus dem Mittelalter. Doch wir wollen erstmal eine Pause machen, einen Kaffee trinken, ein Stück Kuchen essen oder ein Eis. Mal sehen. Und währenddessen möge er uns doch mal seine Geschichte erzählen. Und was ihn so fasziniert – an Cresci, dem Popstar aus dem 17. Jahrhundert.

Über dem Café hockt ein Männlein zwischen zwei Löwen

Blankpoliert: Wo die haptische Neugier am größten ist, glänzt der Kirchturm

Die Stadtexperten. Alle wichtigen Infos zu Kaufbeuren findet man auf den Seiten der Stadt: Gastgeber, Gastronomen und ganz viel Stadtgeschichte.

Die Girlgroup. Will man Crescentia einen Popstar nennen, sind die noch verbliebenen Nonnen die Girlgroup. Es ist nicht respektlos gemeint.

Das beste Eis. Konditor-Eis ist kein geschützter Begriff, aber er bezeichnet Könnerschaft. Der Geschmack stimmt. Sehr gut auch der Zwetschgendatschi.

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