Wir machen uns auf den Weg, erkunden die Städte des Allgäus in Rund- und Spaziergängen, Betrachtungen und Gesprächen. Wir? Eine Fotografin und ein Autor aus Hamburg, zwei erfahrene Reisejournalisten, die schon viele Stempel und Visa in ihren Reisepässen haben, und ihrer Sammlung an Länderpunkten einen neuen hinzufügen – das Allgäu. Ein Stadtportrait von Susanne Baade (Fotos) und Dirk Lehmann (Text)
Ein Privileg ist es, hier stehen zu dürfen. Über 155 Stufen ging es nach oben. Die meisten davon aus Holz, ausgetretene Dielen, passgenau in die Wangen einer engen Stiege eingefügt. Wenn man die Hand auf das Holz legt, meint man in ferne Zeiten hineinzufühlen. Dabei lässt sich bei der Silvesterkirche in Mindelheim selbst für Experten nicht so ohne weiteres sagen, was in welcher Zeit gebaut wurde. Ihre Ursprünge reichen zurück bis in das Jahr 1409. Doch wurde sie immer wieder umgebaut, auf Barock getrimmt, quasi den Moden der Architektur angepasst, bis man sie 1804 – fast 400 Jahre nach der Grundsteinlegung – säkularisierte. Inzwischen ist die Silvesterkirche ein Museum, hier werden Turmuhren ausgestellt. Und es hat durchaus etwas bizarres, in unserem Zeitalter der Miniaturisierung vor solch großen Werken zu stehen.
Uhren messen die Zeit nicht bloß. Uhren erzeugen die Zeit, als Maß das Leben einzuteilen. Und Turmuhren verteilen dieses Maß. Sie überragen eine Stadt, ein Dorf, eine Region. Ihre Glocken tragen das Werk ihrer Arbeit weit hinaus. Ein Schlag für die Viertelstunde, zwei für die halbe, drei für Dreiviertel und schließlich vier Schläge für die volle Stunde, denen dann die Stundenschläge folgen. Zeit und Raum. Bild und Ton. So ist ein Turm mit seiner Uhr auch ein Motiv des Lebens und seiner Rituale. Und man steht hier oben, fast an der Spitze des 49 Meter hohen Kappelturms und überblickt sein Reich.
Ich weiß nicht, ob ich vor meiner Reise in diese schöne Kleinstadt in bayerisch Schwaben zweifelsfrei hätte sagen können, wo sie liegt. Vielleicht nicht. Jetzt stehe ich hier oben und versuche mich zu orientieren. Da das Tor, durch das ich gekommen bin. Zu Teilen steht die Stadtmauer noch, eine ihrer wichtigsten Eintrittspforten ist das Obere Tor mit seinen Erkertürmchen und der „Arme-Sünder“-Glocke, die bei öffentlichen Hinrichtungen läutete. Wie das von statten ging, erzählt der Stich eines Augsburger Künstlers, der beschreibt wie im Jahr 1776 die „boßhaffte Weibs Persohn Maria Magdalena Fetzin von Kastell“ ihr Leben lassen musste. Sie hatte in ihrer „hartneckigkeit auch harte Gefangennschafft“ überstanden und ist „durch das Schwerd unbußfertig hingerichtet worden“.
Gewalt gegen Frauen ist ein Dauerthema der dunklen Jahre, die erst mit dem Beginn des Zeitalters der Aufklärung enden. Erst ab dann kommt es immer seltener zu den unseligen Hexenprozessen mit ihren bestialischen Foltermethoden, die „peinliche Befragung“ genannt wurden oder gar „Gottesurteil“. Die Malefizperson Maria Magdalena Fetzin von Kastell war allerdings nicht als Hexe hingerichtet worden. Man warf ihr vielmehr vor, über „viele Jahr Manskleider getragen“ und „nebst einer grosen Bande viel und gewaltsamme Mord und Diebstahl“ begangen zu haben.
Heute, so die Stadtführerin, die uns Mindelheim zeigt, werde das Tor während der Faschingszeit mit einem überdimensionalen Clowns-Kostüm zum größten Narren. Und mir gefällt der Gedanke, dass das einstige Sünderglöckchen inzwischen die Bespaßung einleitet. Wir waren direkt hinter dem Tor in die Pfarrstraße gegangen. Und während wir langsam auf die Pfarrkirche zugingen, deklamierte unsere Führerin aus der Geschichte der Stadt, dass hier bereits in vorchristlicher Zeit gesiedelt wurde, dass im 9. Jahrhundert die erste Kirche entstand, dass der Ort im 11. Jahrhundert erstmals urkundlich erwähnt wurde und im 13. Jahrhundert die Stadtrechte erhielt. 1365 kam Ulrich von Teck an die Macht, und die erste Blüte Mindelheims steht in engem Zusammenhang mit seiner Herrschaft. Vor allem aber mit seiner Frau, Anna von Polen. Und kurze Zeit später standen wir vor ihr…
In der Kirche zeigt eine Gedenktafel das ausdrucksstarke Antlitz der Gönnerin. Unweit davon das Grab ihres Ehemanns, neben ihm eine ihrer Nachfolgerinnen. Doch offenbar war keine mehr so wichtig für Mindelheim wie Anna, der die Stadt zwei Kirchen zu verdanken hat – unter anderem die, in dessen Turm wir jetzt stehen. Und weiter mit den Fingern den Weg abzeichnen, den wir durch Mindelheim gegangen sind: Irgendwo da, im Gewirr der engen Gassen, muss das Heimatmuseum sein, untergebracht in den barocken Räumen eines ehemaligen Franziskanerinnen-Klosters. Kunst, Möbel, Alltagsgegenstände – eine Lebenswelt, die in Teilen heute so fern wirkt wie die Naturvölker Papua-Neuguineas. Aber das hat sicherlich auch damit zu tun, dass ich mir mit meinen 1,93 Meter vor dem kurzen Bettchen vorkomme wie Gulliver.
Könnte das da das „Café K“ sein? Ein winziges Gebäude, eine Stiege mit Stufen zu klein für meine Füße und Decken zu niedrig für meinen Kopf. Doch der Duft war zu gut, um daran vorbei zu gehen. Hier werden Kuchen gebacken, die verzücken. Ursprünglich von der „Krippele-Rosa“, die diesen Ort zum Museum ihres Lebens machte und irgendwann darin ewige Weihnacht beging – mit einer umfänglichen Ausstellung von Krippen. Räume wie aus einer Puppenstube. Ähnlich klein, ähnlich süß.
Genau so weiblich präsentierte sich die Congregatio Jesu. Das Kloster Herz Jesu ist ein jesuitischer Frauenorden, gegründet von Maria Ward. Ihr Anspruch war, die Bildung der Frauen zu verbessern. Und in klösterlicher Gemeinschaft zu leben – die das Herz Jesu verehrt. Es ist ein Symbol der besonderen Selbstlosigkeit und Hingabe. So wie Jesus sich den Menschen opferte, die Hilfe nötig hatten, so kümmern sich auch die Maria-Ward-Schwestern um die Nöte der anderen. Eine Urform der Mütterlichkeit, ohne Mütter sein zu können. Im Gegenteil. Aus Rom wurde Ordensgründerin Ward sogar vertrieben, und erst viele viele Jahre später erfuhren die frommen Frauen die Anerkennung, die ihnen lange verwehrt geblieben ist. Und die erst spät kam. Heute birgt das Kloster eine Realschule.
Zuletzt schließlich weist der Finger, nachdem die hübsche Maximilianstraße abgezeichnet wurde, auf den Boden zu unseren Füßen. Da liegt der Eingang zur Kirche, die wir gerade betreten haben, um die Turmuhren zu betrachten. Große Zeitmesser aus allen möglichen Epochen stehen da, manche arbeiten laut klacken vor sich hin, andere stehen stumm, der Zeit hoffnungslos ausgeliefert. Und doch schön anzusehen. Turmuhren hatten einst Macht über die Menschen. Die Faszination, die von ihnen ausgeht, ist immer noch groß. Nicht zuletzt, weil sie vor allem eins sind – groß. Man kann regelrecht zusehen, wie sie die Zeit erstellen.
Entlang der Stiege, die wir nach oben gegangen sind, hängt eines der längsten Uhren-Pendel. Es misst rund neun Meter und schwingt langsam im Rhythmus der Erdrotation, alle fünf Sekunden ein Tick. Man muss sich schon ein wenig zusammen reißen, es auf dem Weg nach oben, nicht zu berühren. Wann bietet sich schon die Gelegenheit, die Zeit anzufassen?
Weit geht der Blick über Mindelheim, über die Stadtgrenzen hinaus. Eine moderne Stadt im historischen Gewand, rund 15.000 Menschen leben hier. Sicherlich ist der Frauenanteil an der Bevölkerung Mindelheims nicht höher als in anderen Städten des Allgäus. Und doch kommt es einem so vor. Wir sehen die Mindelburg. Von innen sei die zwar nicht zu besichtigen. Aber dennoch lohne ein Besuch. Den verschieben wir auf den Nachmittag. Wo lag nochmal das Café K? Wir müssen unbedingt noch etwas erledigen…
Informanten. Alles Wissenswerte über Mindelheim, dazu tolle Stadtführungen.
Chronologen. Das Schwäbische Turmuhrenmuseum muss man besuchen.
Kuchen. Die beste Verbindung von Genuss und Heimatverbundenheit