Sonnig, gesund, glutenfrei – im Eisbärendorf Scheidegg
Wir machen uns auf den Weg, erkunden die Städte des Allgäus in Rund- und Spaziergängen, Betrachtungen und Gesprächen. Wir? Zwei erfahrene Reisejournalisten, die ihrer Sammlung an Länderpunkten einen weiteren hinzufügen – das Allgäu. Wir besuchen einen der sonnigsten und gesündesten Orte Deutschlands: Das Eisbärendorf Scheidegg ist bekannt dafür, neue Wege zu gehen. Begleiten Sie uns…
„Skeptikern halte ich keine Vorträge darüber, warum ich glutenfreie Backwaren anbiete, und was das Gute daran ist“, sagt Bäckermeister Klaus Tyl, „sondern ich lasse sie einfach probieren.“ Und Tyl schneidet mit einem eher einfachen Haushaltsmesser mit orange-farbenem Kunststoffgriff eine Auswahl seiner Brote und Kuchen in kleine Stücke und schiebt uns die Teller hin. Wir probieren.
Andächtiges Gemümmel. Ein Augenblick der Ruhe in der Bäckerei. Ein eher pragmatischer Ort, geflieste Wände, eine große Arbeitsplatte aus Stahl. Töpfe, Schüsseln und Maschinen. Durch die Milchglasscheiben ergießt sich das Sonnenlicht in „Tyl’s Backstube“, weich und warm. Ein Radio schweigt. Und in die Stille hinein sagen wir: „Lecker!“ Und: „Verblüffend.“ Und: „Echt gut.“
Exkursion gesunder Genuss
Eine kleine Gruppe stromert durch Scheidegg, einen Markt im bayrischen Regierungsbezirk Schwaben. Ziel der Exkursion durch diesen traditionellen Kurort ist eine besondere Form des Genusses. Scheidegg hat sich in den vergangenen Jahren als „glutenfreier Kurort“ etabliert. Dabei geht es um viel mehr als nur um ein Ernährungsangebot an jene, die unter einer Unverträglichkeit gegenüber dem in vielen Getreidesorten vorkommenden Klebereiweiß leiden.
Denn von Zöliakie, so heißt diese Autoimmunkrankheit, sind nur wenige Menschen betroffen, nach Schätzungen nicht einmal ein Prozent aller Deutschen. Doch geht mit dem Verzicht auf Gluten eine große Aufmerksamkeit gegenüber Lebensmitteln einher. Scheidegg ist somit attrativ für alle, die auf ihre Ernährung achten. Sei es aus gesundheitlichen Gründen. Oder aus eher prophylaktischen. Es gibt genügend Menschen in diesem Land, die meinen, dass unser Umgang mit Lebensmitteln aus dem Ruder gelaufen ist.
Seit mehr als 20 Jahren ist Klaus Tyl in Scheidegg, vor 10 bis 12 Jahren – so ganz genau weiß er das gar nicht mehr – kam die Idee auf, etwas anders machen zu wollen. Er hat mit alternativen Zutaten experimentiert, mit Mais- und Reismehl, Kastanien- und Johannisbrotkernmehl, mit Zwerghirse und Zuckerrübensirup. Inzwischen funktionieren seine Rezepte so gut, dass er Kunden in ganz Süddeutschland mit glutenfreien Backwaren bedient. „Einer“, so der Bäcker nicht ganz ohne Stolz, „kommt an mehreren Wochenenden im Jahr aus dem 120 Kilometer entfernten Ulm zum Frühstück angeradelt.“
Kleiner Ort mit großem Weitblick
Scheidegg, der kleine Ort mit der fantastischen Fernsicht, ist nicht nur für Tyls Backwaren eine Reise wert. Die nächste Station auf unserer Genuss-Expedition führt ins Hotel „Zum Hirschen“ mit seiner wunderbaren Gaststube – „Beim Stöckler“. Die Zimmer sind modern und klar, die Gaststube bietet aufgeräumte Gemütlichkeit. Wir hocken beim Kachelofen und studieren die Speisekarte, die glutenfreie Biere enthält – aus Hirse gebraut – und glutenfreie Speisen, etwa ein Filet vom Zander auf einem Gemüsebeet.
Auch Klassiker der allgäuerisch-bayerischen Küche finden sich auf der Karte von Chef Markus Stöckeler, etwa ein geschmortes „Lammhäxle im Kräuterjus“. Aber immer mit einem Twist. Stöckeler verwendet überwiegend regionale Zutaten. Und er versteht sich als Koch mit Verantwortung. „Unsere Portionen machen satt, aber unsere Teller sind nicht so voll gepackt, dass man sein Essen nicht schaffen kann. Wir werfen nicht gern Lebensmittel weg. Wer noch hungrig ist, bekommt gern einen Nachschlag.“
Zum Essen in der Gaststube setzt sich nicht nur Koch Markus Stöckeler zu uns, sondern auch der „Christian“, der in Scheidegg den kleinen Laden „Christians Dorf Kiosk“ betreibt, und sich längst verabschiedet hat vom spießigen Gedanken, einen Nachnamen zu verwenden. Christian verkauft nicht nur Presse-Erzeugnisse, sondern ist auch der Umschlagplatz für die Geschichten im Ort. Und er erzählt, dass das Konzept glutenfreies Scheidegg so gut angenommen wurde, dass sogar das Café-Restaurant im Kurhaus des Ortes ganz auf glutenfreie Kuchen und Torten, Snacks und Mahlzeiten gesetzt hatte.
Inzwischen musste man aufgeben, das dort einst ansässige Unternehmen fungiert nurmehr als Online-Vertrieb für glutenfreie Backmischungen. Was ist geschehen? „Ach“, sagt Christian, „darüber kuriseren viele Gerüchte. Und Scheidegg ist ein perfekter Ort für Gerüchte.“ Und Christian erzählt die Geschichte von einer nahen Schlucht, quasi das Kälteloch Scheideggs. In ihrer Nähe wurden im 19. Jahrhundert immer wieder Schafe gerissen. Unter den Bauern entstand das Gerücht, dass ein Eisbär dafür verantwortlich sei. Bären gab es schon lange nicht mehr in der Region. Doch ein Eisbär… War es in der Schlucht nicht auch so grauenhaft kalt? Und eines Tages begab man sich auf Eisbären-Jagd… Was er damit sagen will, fragen wir den Christian. „Ach“, antwortet der und lacht, „weiß ich auch nicht.“
Die Sache mit dem Eisbären
Wir haben uns nach dem Essen auf den Höhenwanderweg von Scheidegg begeben. Weit geht der Blick über die sich dahin wellende Landschaft. Am Horizont die blaue Zackenlinie der Berge. Vor uns der Ort. Wir sehen die Kirche, das Kurhaus. Wir atmen die gute Luft. Wir wissen um das gute Essen. All das scheint was mit den Menschen zu machen, ihre Begeisterungsfähigkeit zu wecken. In der Vergangenheit hat man dabei auch mal über das Ziel hinaus geschossen. Die kleine Scheidegger Jagd-Gemeinschaft, angeführt vom Pfarrer, soll tatsächlich ein weißes Untier erlegt haben. Es war allerdings kein Eisbär. Sondern ein wilder Schäferhund.
Manche verspotten mit dieser Geschichte gern die Hinterwäldler aus dem Eisbärendorf Scheidegg. Doch genauer betrachtet, ist es zwar gerechtfertigt, die Menschen damals als einfältig zu bezeichnen. Doch haben sie immerhin den Mut gehabt, sich ihrer Angst zu stellen, das Untier zu vertreiben. Offenbar wurden seither keine Schafe mehr geschlagen. Zudem hat man in Scheidegg die Größe, selbst auch über den Vorfall zu lachen, ihn sogar zum Symbol des Ortes zu machen – den Scheidegger Isbär. Heute wünschte man sich, mehr Menschen hätten die Fähigkeit zu selbstkritischer Distanz. Vor allem aber den Mut, neue Wege zu gehen.
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