Vor kurzem habe ich Johanna Berktold kennengelernt. Sie ist Mediengestalterin und in der Birgsau groß geworden. Der kleine Weiler liegt auf 965 Metern Höhe, zehn Kilometer südlich von Oberstdorf im hinteren Stillachtal – eine komplett andere Welt. Mich haben Johannas Erzählungen neugierig gemacht und ich besuche die 22-Jährige in dem abgelegenen Tal.
Zehn Häuser, eine Kapelle, eine Wirtschaft und das Hotel von Johannas Eltern – mehr gibt es hier nicht. Auch Straßenlärm nicht, denn ab Faistenoy ist der Weg in den Weiler gesperrt, nur Hotelgäste dürfen mit Genehmigung in das Naturschutzgebiet fahren. Ganz hinten geht es nur zu Fuß bergwärts weiter. Abgeschiedenheit. Wie ist es, in so einem stillen und wunderschönen Tal groß zu werden?
Johanna arbeitet derzeit bei ihren Eltern im Birgsauer Hof. Das Hotel ist das südlichste Deutschlands. Hier ist sie auch aufgewachsen. Steil gehen die Bergflanken rings um das Haus hinauf. Johanna schenken die Jahrmillionen alten Steinriesen Geborgenheit. Vermisst hat sie hier nie etwas, mit den Gästen war und ist ja immer etwas los. Ihr jüngster Bruder hingegen muss ab und an mal raus aus dem Tal und braucht ein bisschen mehr Trubel. „Es kommt drauf an, was für eine Art Mensch man ist“, ergänzt ihr anderer Bruder Aurel, „für mich ist die Stille gut.“
Die junge Frau kann sich vorstellen, das 3-Sterne-Haus mit 65 Betten einmal zu übernehmen, aber nur zusammen mit ihren beiden Brüdern. Sie würden sich mit ihren verschiedenen Stärken gut ergänzen, meint Johanna. „Es kommt, wie’s kommt“, fügt sie noch mit Allgäuer Gelassenheit hinzu. Vielleicht lernt man die hier besonders. Johannas Mutter hat ihren Kindern mitgegeben, auf die Berge zu schauen, wenn sie sich über etwas ärgern, diese würden schließlich schon seit ewigen Zeiten hier stehen – im Vergleich dazu, wird jedes Problem ganz klein. Für sie und ihren Mann ist es auch kein Muss, dass ihre Kinder das Hotel weiterführen, denn wenn jemand ohne Herzblut bei der Arbeit ist, wäre das sowieso nichts.
Die Stille ist im Stillachtal wirklich magisch. Wer hier Urlaub macht, erlebt eine echte Auszeit. Auch digital: WLAN gibt es zwar in der Hotellobby, jedoch nicht auf allen Zimmern. Das ist für manche Gäste wirklich herausfordernd, andere hingegen genießen ihre ‚Digital detox-Kur‘. Man ist nicht ständig erreichbar. Das nimmt Druck und hilft, wirklich mal ganz abzuschalten. „Das ist auch das, was wir unseren Gästen mitgeben wollen: Ein Stück Normalität zu erleben, damit sie Kraft und Energie in dieser Ruhe auftanken können“, meint Johanna.
Wintererlebnis vom Feinsten – Das Stillachtal im Allgäu
Wer sich sanft oder sportlich bewegen will, kommt im Stillachtal voll auf seine Kosten. Ein Spazierweg nach Einödsbach und eine Langlaufrunde starten sozusagen direkt vor der Hoteltür. Die Ausblicke auf den Allgäuer Hauptkamm sind wunderschön, vor allem bei so einem Wetter wie heute. Am Nachmittag und Abend ist es hier am sonnigsten. Außerdem ist die südlichste Langlaufloipe Deutschlands relativ schneesicher. Im Tal herrscht eine ganz eigene Wetterlage. Wenn in Oberstdorf die Bedingungen nicht mehr so optimal sind, ist die Loipe hier noch top.
Mit ihrem Bruder Aurel gönnt sich Johanna heut mal ein paar freie Stunden. Früher nutzten die beiden jede Gelegenheit, um auf die Piste zu kommen. Heute müssen sie sich die Zeit schon extra nehmen. Die Fellhornbahn bei Oberstdorf liegt nur ein paar Autominuten von ihrem Zuhause entfernt.
Von der Gondel aus sind das Stillachtal und die Allgäuer Gipfel von oben zu sehen: Die Oberstdörfer ‚Köpfe‘ und das Dreigestirn Trettach, Mädelegabel und Hochfrottspitze. Die Mädelegabel, die links neben der weißen Wolke in der Mitte rausspitzt ist eine der bekanntesten und meist bestiegenen Hochgipfel der Deutschen Alpen. Was für ein Traumwetter!
Ups, jetzt zieht es oben zu. Das ist in Oberstdorf eher selten der Fall, dachte ich. Der Ort ist im Herbt und Winter für die Wetterlage ‚obheiter‘ bekannt. Der Allgäuer Begriff steht für das Wetterphänomen der Temperaturumkehr, das – vereinfacht gesagt – zur Folge hat, dass es unten neblig, oben auf den Gipfeln aber sonnig und heiter ist.
Johanna meint aber, das heute der Kältenebel vom Tal nach oben gezogen ist und die Bergspitzen mit einem Band verhängt. Da am Fellhorn das Wetter durchziehen würde, käme das auch öfter mal vor. Der Wechsel von Sonne und Wolken passiert aber sehr schnell. Reine Nebeltage sind hier ziemlich selten. Ah, weiter unten geht es tatsächlich wieder auf.
Zurück von der Piste geht es erst mal ab vor den Kamin im Hotel. Das Feuer tut jetzt richtig gut! Den Kontrast von kristall-klarer Kälte draußen und wohliger Gemütlichkeit drinnen finde ich am Allgäuer Winter besonders schön.
Was mich auch immer wieder am Allgäu begeistert, ist der Zusammenhalt in der Familie. In keiner anderen Region habe ich das bislang so stark wahrgenommen wie hier. „Ruhe und Familie ist auch das, was als Grundidee für mein Leben und für unser Haus immer bleiben muss“, meint Johanna.
Die Berktold-Thaumillers sitzen zusammen auf der großen Couch am Hoteleingang und blättern im Familienalbum. Johannas Großeltern haben vor über 50 Jahren den Gasthof von 1899 gepachtet, später gekauft. Bis in die 70er Jahre wurden die Kinder in der Birgsau von einem Lehrer unterrichtet. Der Weg nach Oberstdorf – gerade im Winter – zu weit und mühsam. Die Birgsauer wurden als ‚Hinterwälder‘ abgestempelt. Das sind sie aber ganz und gar nicht. Viel mehr sind deren Bodenständigkeit und Verbindung zur Natur wohltuend.
Bald wird es Abend. Später wird vielleicht das nächtliche Sternenfirmament zu sehen sein – direkt vom Bett aus. Kein anderes Licht von Gebäuden oder Straßen wird die Milchstraße ‚überleuchten‘. Das ist der Blick aus einem der Zimmer im Birgsauer Hof.
Auch Johanna und Aurel lieben die besonderen Stimmungen in der kalten Jahreszeit: „Wenn so richtig dicke Schneeflocken vom Himmel kommen und am nächsten Tag die Sonne die Kristalle zum Glitzern bringt, dann ist das einfach toll. Auch eine Vollmondnacht im Stillachtal ist ein wunderschönes Erlebnis. Außerdem sind die Leute im Winter irgendwie viel gemütlicher.“
Das liegt wahrscheinlich auch an der Familie selbst. Irgendwie muss die Gelassenheit ja abfärben.
Text, Fotografie & Film: Ingrid Yasha Rösner
Videoschnitt: Lukas Kellner, Würzburg