Der Forggensee – Einblicke in eine versunkene Welt
Trüb ist das Wetter heute rund um Füssen. Grau bestimmt den Himmel und die Berge hüllen sich in tief hängende Wolken. Der Winter kam nochmal für ein paar Tage mit seiner weißen Pracht zurück. An den nahen Frühling oder gar den Sommer denkt man noch nicht. Und dort, wo sich in drei Monaten Badegäste dicht an dicht auf ihren Handtüchern drängeln steht man am Rande der „Allgäuer Winterwüste“. Erst ab Mai verwandelt sich die 15 km² große Ödnis in den fünftgrößten See Bayerns – den Forggensee. Während der „Trockenzeit“ ist ein Besuch aber nicht weniger spannend. Denn – Relikte aus Urzeiten und einer versunkenen Welt lassen sich im Seebecken finden.
Als 1950 mit dem Bau der Staumauer bei Roßhaupten begonnen wurde, zählte die Baustelle am Forggensee-Kraftwerk damals zu den größten Bauprojekten Bayerns. Die Stelle für den Damm kurz nach der einstigen Illasberg-Schlucht, die man getrost zu den schönsten Voralpenschluchten Deutschlands zählen konnte, wählte man nicht ohne Grund. Kurz nach der letzten Eiszeit gab es bei Füssen schon einmal einen riesigen natürlichen See. Langsam aber stetig nagte der Lech jedoch an dessen natürlicher Staumauer, dem Höhenzug zwischen Roßhaupten und Trauchgau. Schließlich brach der Lech hindurch und der nacheiszeitliche „Füssener-See“ entleerte sich. Tausende Jahre später kamen die Ingenieure und bauten die einst natürliche Staumauer in kleinem Maßstab wieder auf.
Darstellung der heutigen Seefläche auf einer historischen Karte von 1818.
Stromgewinnung und der Schutz flussabwärts liegender Städte und Siedlungen vor Hochwasser waren die Gründe. Sehr zum Leidwesen vieler Einheimischer und der artenreichen Pflanzen- und Tierwelt der Lechauen. Nicht nur große Flächen nutzbaren Ackerlands verschwanden 1956 in den Fluten des Stausees. Auch die Bewohner der Weiler Forggen und Deutenhausen sowie Teile von Brunnen (Ortsteil Schwangau) und dem Weidach (Ortsteil Füssen) mussten sich eine neue Heimat suchen. Langsam entwickelte sich in den 60er Jahren der Tourismus rund um den See. Während des Vollstaus über die Sommermonate bis in den Herbst (vom 1. Juni bis 15. Oktober) dient der See der Freizeiterholung. Seegelschulen haben sich an den Ufern niedergelassen und zwei Motorschiffe bringen im Fährbetrieb Ausflügler bequem über den See.
Wildromantisch war einst die Illasberg-Schlucht. Sie zählte bis zum Vollstau zu den schönsten Voralpenschluchten Deutschlands.
Während der Wintermonate lässt sich das Seebecken trockenen Fußes erwandern und man kann der Geschichte sprichwörtlich „auf den Grund gehen“. Durch den regelmäßigen Auf- und Abstau wurden viele Besonderheiten „freigewaschen“. Machen wir uns auf die Suche und kommen wir von Jahrmillionen alten Fossilien zu ganz modernen Fundstücken der Gegenwart.
Im Norden des Forggensee Beckens erstreckt sich ein Höhenzug in Ost-West Richtung. Der geologische Kern dieses Höhenrückens besteht aus Sandsteinen und Konglomeraten (im Allgäu auch Nagelfluh genannt). Diese Gesteine lagerten sich in einem urzeitlichen Meer während der sogenannten „Unteren Meeresmolasse“ vor rund 30 Millionen Jahren ab. Da diese Sandsteinschichten unweit der im Forggensee versunkenen Ortschaft Deutenhausen anstehen, bekamen Sie den Namen „Deutenhausener-Schichten“.
Die Deutenhausener-Schichten. Die im Forggensee versunkene Ortschaft Deutenhausen gab ihnen den Namen.
30 Millionen Jahre alte fossile Blätter aus dem Allgäuer Urwald.
In diesen Sandsteinschichten lassen sich mit viel Geduld und etwas Glück fossile Blätter finden. Damals sah die Landschaft um Füssen noch ganz anders aus. Die Berge hatten noch nicht ihre heutige Form und tropische Urwälder wuchsen am rand eines Meeres, dass sich von hier bis zur Schwäbischen Alb erstreckte.
Versteinerte Wellenrippeln (Rippelmarken): links 30 Millionen Jahre alt, rechts ganz „frisch“.
Auch lassen sich versteinerte Wellenrippeln finden. Durch Meeresströmung entstanden, wurden diese Rippelmarken rasch von Sediment bedeckt und versteinerten dann über viele Millionen Jahre. Die Deutenhausener-Schichten wurden beim Staudammbau in einem Steinbruch abgebaut und teilweise als Bau- und Füllmaterial verwendet.
Der Steinbruch in den Deutenhausener-Schichten zur Zeit des Staudammbaus. Zwischen beiden Bildern liegen 60 Jahre.
Viele Millionen Jahre später wurde es kalt in Europa. Langsam und träge schoben sich die Gletscher der Alpen ins Vorland und bedeckten das Land um den heutigen Forggensee unter einem mächtigen Eispanzer. Nur die höchsten Spitzen der Berge ragten aus dem gewaltigen Eisstromnetz hervor. Im Eis eingeschlossene Kiesel und Gesteinsbrocken hobelten den Untergrund regelrecht ab. Parallel verlaufende Kratzspuren auf den Schichten des Deutenhausener Sandsteins zeugen von der rohen Kraft des Eises.
Ein Gletscherschliff auf der Gesteinsoberfläche. Das Eis hat den Untergrund abgehobelt und Schrammen und Kratzer auf den Felsen hinterlassen.
Aufgrund neuster Forschungsergebnisse kann davon ausgegangen werden, dass vor 15 000 Jahren das Gebiet um Füssen bereits eisfrei war. Die Gletscher zogen sich langsam in das Hochgebirge zurück und die Baum- und Buschvegetation fasste in der ehemaligen Eissteppe wieder Fuß. Wildtiere fühlten sich rundum wohl in den Wäldern. Und das erfreute auch die Jäger und Sammler der Steinzeit. Während der Sommermonate zogen die Clans dem Wild hinterher, in den Allgäuer Alpen teilweise bis in Höhen um 2000 Meter. Rund um den heutigen Forggensee zeugen eine Vielzahl von Jagdlagern der Mittelsteinzeit (Mesolithikum) von der Anwesenheit der Jäger. Aus dem Radiolaritgestein, welches der Lech aus dem Gebirge mitbrachte, fertigten sie vor 7900 Jahren ihre Werkzeuge und Waffen. Dieser Stein war sozusagen der Stahl der Steinzeit. Was wird den mittelsteinzeitlichen Jägern durch den Kopf gegangen sein, als sie am Abend um ihr Lagerfeuer saßen, auf die Lechauen hinunter blickten und im Hintergrund die Berge vom letzten Licht der Abendsonne angestrahlt wurden?
Hinterlassenschaften mittelsteinzeitlicher Jäger und Sammler: Ein Abschlag und eine regelmäßige Klinge.
Mehrere tausend Jahre später machte sich eine große Militärmacht auf den Weg von Süden über die Alpen. Dabei trafen die Römer jedoch nicht auf menschenleeres Gebiet. Vielmehr hatten sich auch in der Füssener Gegend vereinzelt rhätische Stämme angesiedelt. Die Römer erschlossen nach und nach das Gebiet nördlich der Alpen, planten Straßen, bauten Siedlungen und Städte. Nach der Siedlung auf dem Auerberg wuchs Kempten als Cambodunum zur ersten Provinzhauptstadt Rätiens. Wichtige römische Handelsstraßen durchquerten das Allgäu. Eine der in unserer Region bekanntesten Römerstraßen dürfte die Via Claudia Augusta sein. Vom Fernpass kommend führte sie über Füssen am Lech entlang bis nach Augsburg, dem römischen Augusta Vindelicorum. Ihr Straßendamm ist noch heute bei Niedrigwasser im Forggensee gut zu erkennen. Weitere Zeugnisse römischer Existenz im Becken des Forggensees sind ein römischer Gutshof (Villa rustica) bei Brunnen sowie eine römische Handelsstation nordöstlich von Dietringen und ein Brandopferplatz am Nordende des Sees.
Die Grundmauern eines römischen Gutshofes (Villa rustica) bei Brunnen.
Auch nach dem Abzug der Römer nutzte man deren vorhandene Infrastruktur weiter. In Füssen blühte der Handel im Mittelalter. Waren wurden umgeschlagen und zum Teil auf Flößen weiter transportiert. Erst Anfang des 20. Jahrhunderts kam das Flößereigewerbe auf dem Lech vollständig zum Erliegen. In der Gegenwart wurde die Landschaft am Lech von der Landwirtschaft geprägt. Felder, Wiesen und Äcker säumten die Lechauen. Bäuerliche Höfe und landwirtschaftliche Anwesen prägten die Dörfer Deutenhausen und Forggen – bis das Wasser der Landschaft ein neues Aussehen verlieh und die menschlichen Behausungen in den Fluten versanken. Nur während der Wintermonate kommen sie ans Tageslicht und sind stumme Zeugen einer versunkenen Welt.
Das Tonnengewölbe der einstiegen Forggenmühle (links) und eine neuzeitliche Drainageleitung aus Tonröhren.
Alljährlich bietet die Tourist Information Schwangau geführte Wanderungen im leeren Forggensee. Informationen dazu gibt es bei der Tourist Information Schwangau, Tel. 08362 81980.
Von der Via Claudia ist auch bei Niedrigwasser nahezu nichts mehr zu sehen, für Laien schon gar nichts. Durch ihren Artikel sind die Leser und Seebesucher der Meinung, dass es sich bei der alten B16 Straße um die Via Claudia handelt.
Hallo Herr Ganahl, vielen Dank für Ihren Kommentar. Tatsächlich ist es der Fall, dass die Trassierung der alten B16 sich an der der Via Claudia orientiert hat bzw. sogar identisch ist (Anstieg nach der alten Tiefentalbrücke). Übrigens lässt sich der Damm der Via Claudia beim Café Maria noch gut erkennen (östlich und parallel zur alten B16). Dazu gibt es bei YouTube ein schönes Video mit Luftbildaufnahmen. Ebenso ist die Trasse der Römerstraße inklusive der straßenbegleitenden Materialgruben bei Dietringen bestens nachzuvollziehen. Wer natürlich ganz genau wissen will, wo sich der Verlauf befindet, sollte sich mit einem lokalen Gästeführer oder einem Historiker bzw. Experten aufmachen. Unter fachkundiger Begleitung werden die Geheimnisse der Region dann auch für Laien sichtbar.