Bayern verfügt über 2,6 Millionen Hektar Wald, das sind ungefähr 5 Milliarden Bäume. Rund 79.000 Hektar davon sind sich selbst überlassen – Naturwald, die Ur-Wälder von Morgen. Einer der schönsten Naturwälder zählt zu den größten seiner Art im Allgäu und dürfte doch nur wenigen bekannt sein: der Achrain. Förster Boris Mittermeier nimmt uns mit. Und bleibt schon am Anfang stehen.
Es geht über eine kleine Kuhweide. Wir drängen uns – die Schultern voran – durch niedriges, widerspenstiges Gehölz. Bis wir in den Wald quasi hineinstolpern, wie in einem Märchenfilm, als hätte plötzlich ein Widerstand nachgegeben. Typisch duftender Boden, von Moos und Tannennadeln bedeckt. Wir stehen in einer Gruppe von 40 bis 50 Meter hohen Weißtannen. Schräg dringt das Sonnenlicht durch die Stämme in den Wald. Als würde man in einer Kirche der Natur stehen. Boris Mittermeier sagt: „Mich überkommt hier immer eine Gänsehaut.“
Jetzt stehen wir hier, in der Eingangshalle dieses eindrücklichen Urwalds
Boris Mittermeier ist das Idealbild eines Försters. Ein drahtiger Mann in Wanderschuhen, derben Hosen und einer grünbraunen Fleecejacke. Über dem leichten Vollbart wache Augen hinter einer schmalen Brille, eine hohe Stirn. Er hat uns in seinem Kombi abgeholt, einem Wagen, dem man ansieht, dass er sich ständig im Waldeinsatz befindet. Jetzt stehen wir hier, quasi in der Eingangshalle des Urwalds. Tief beeindruckt. Und wir können uns kaum vorstellen, dass dieses Tal noch spektakulärere Momente für uns bereit halten kann. Wird es aber.
Die Weissach entspringt in den Bergen oberhalb von Immenstadt und prägt Teile dieser wunderbaren Landschaft ganz im Südwesten des Allgäus. In Österreich mündet der Fluss in die Bregenzer Ach. Auf ihrem Weg dorthin sammelt die Weissach einige Zuflüsse ein und stürzt bei Steibis in diese, von einer der letzten Eiszeiten geformte Schlucht. Im Achrain ist das Tosen des Wassers fast überall zu hören. Doch in den tief zerklüfteten, steilen Schluchten bleibt der Fluss nahezu unsichtbar. Üppig überwuchert sind die Hänge, von imposanten Bäumen gesäumt.
Manche Bäume liegen umgestürzt in den Hängen, bereit neues Leben zu geben
„Hier leben Fichten, Buchen, Weißtannen, Ahorn, Ulmen und Eschen“, sagt Boris Mittermeier. Während wir uns langsam voran arbeiten in die Tiefe des Achrain, tätschelt er einige der Bäume wie man den Hals eines Haustiers streichelt. Manche Stämme liegen umgestürzt in den Hängen, von Moos und Büschen überwuchert. Bereit neues Leben zu geben. „In einem bewirtschafteten Wald sind schon 20 bis 30 Festmeter Totholz auf einen Hektar viel, im Urwald entscheidet die Natur, wie viele Festmeter Schnee, Sturm und Alter bescheren – 100 Festmeter und mehr sind dort keine Seltenheit.“ Ein Festmeter bedeutet ihr ein Kubikmeter.
Vor uns liegt quer eine gewaltige Buche. Boris weist auf die Höhle eines Weißrückenspechts im Holz, er zeigt auf Weißfäule und Braunfäule, berichtet von Pilzen wie Zunderschwamm oder Stachelbart. Früher hielt man die Pilze für die Feinde der Bäume. Heute weiß man, dass der Stachelbart nur auf starken Tannen lebt. „Wenn man den findet, hat der Waldbesitzer aus ökologischer Sicht vieles richtig gemacht.“
Wir klettern tiefer in den werdenden Urwald hinein. Die Luft ist erfüllt vom Rascheln der Blätter, vom Rauschen des Wassers, vom Summen der Insekten. Die Sonne dringt nur zum Teil durch das Dach der Bäume. Am Boden ist die Luft kühl. „Dies ist eine besondere Waldgemeinschaft“, sagt Boris Mittermeier. Er verwendet ständig diese Begriffe: Waldgemeinschaft, Waldgesellschaft, Vegetationsgemeinschaft – sie besteht aus Bäumen, Büschen, Pilzen und Käfern. Inzwischen wissen wir, dass Bäume keine Einzelgänger sind. Sie kommunizieren über Duftstoffe, sind durch ihre Wurzeln miteinander verbunden und über die Hyphen der Pilze, die im Waldboden ein regelrechtes Netzwerk bilden. Man spricht sogar vom Wood Wide Web.
Die Bäume kommunizieren über ein Netzwerk – das Wood Wide Web
Im Achrain lebt diese Gemeinschaft ohne forstwirtschaftliche Einflussnahme. Seit 1978, seit rund 40 Jahren. Für uns Menschen eine lange Zeit. Nicht für die Bäume. „200 bis 300 Jahre alt sind einige der Tannen hier. Sie stehen in ihren besten Jahren“, sagt der Mann, der ein Jüngling ist gemessen am Alter der Bäume. Wenn man den Wald lässt, genießen die Bäume ein langes Leben. Als Förster lernt man, in Generationen zu denken. „Für mich gibt es keine einfache Gleichung: Urwald gleich heile Welt – Forstwald als das Gegenteil.“ Der Wald müsse heute Leistungen für viele Menschen erbringen -Baumaterial, Trinkwasser, Lawinenschutz und Brennholz. Gleichzeitig ist er wertvoller Lebensraum für eine enorme Artenvielfalt.
Wir steigen über einen weiteren Stamm. Der Förster von der Fachstelle Waldnaturschutz sieht einen Pilz und bricht ihn auf, um uns den Zunderschwammschwarzkäfer zu zeigen, der darin lebt. Plötzlich hält Boris Mittermeier inne. „Ich muss doch ein totaler Freak für euch sein, wie ich hier in den Pilzen nach einem Käfer suche.“ Er lacht. Und erzählt, wie er wurde, was er ist: Studium der Forstwirtschaft in Weihenstephan, Revierförster in Ottobeuren, heute stellvertretender Leiter und Betreuer der Natura 2000 Projekte. Es zählt zu seinen Aufgaben, Orte wie diese zu hüten und zu erforschen.
Wie gut das bisher gelingt, hat sich im vergangenen Jahr gezeigt als Boris Mittermeier im Totholz ein Exemplar des seltenen Rindenschröters fand. Im Allgäu hat man das erste und bisher einzige Exemplar dieses Käfers im Jahr 1953 entdeckt. Der schwarze, bis 1,5 Zentimeter lange Schröter mit seinen charakteristischen Mandibeln – dem typischen Mundwerkzeug – steht auf der Liste der vom Aussterben bedrohten Arten. „So ein Fund ist wie ein kleiner Lottogewinn“, sagt der Förster, der in einem Nebensatz erwähnte, dass sein Hobby die Ornithologie ist. „Es zeigt, wie wertvoll Totholz und Biotopbäume für die Artenvielfalt sind.“
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